Der einzige sichere Hafen ist das Meer

28 Grad Celsius. Nichts als Himmel um uns. Himmel und Wasser. Gestern von Osten kommende Federwolken gesichtet. Heute Cumulusnimbus. Noch kommen uns lange Wellen entgegen. Gleichmässig angeschwemmt, wie Perlen aufgeknüpft an einer Schnur.
Als wären sie ein lebendes Wesen ziehen sie unsere Helena vorwärts. Rufen uns mit einer plätschernden, murmelnden Stimme: „Immer weiter. Weg von der Heimat. Dem sicheren Hafen.“
Oder ist vielleicht der einzige sichere Hafen das Meer?
„Kritzelste wieda?“
Max sieht von seinen Notizen auf zu Richi. Der steuert mit dem Knie und schraubt an seinem Flachmann. Max runzelt die Stirn, sieht dann wieder nach Osten. „Siehst Du die Wolken vor uns? Dort braut sich was zusammen.“
„Davon is‘ die Isla de Oro.“ Richi atmet tief ein. „Ich kann’ se schon schnuppern. Wolln ma als Erste die Floss‘n an Land schwing‘n, müss‘n ma schnurg’rad‘ auf‘m Kurs aufkreuzen. Sons könn’ ma uns die Führun‘ in die Wellen mal‘n.“
„Wind!“, ruft Lea, die sich auf dem Vordeck bräunt. „Wir brauchen Wind!“
Max zieht ein rundes Barometer aus der Tasche. Sieht zum Himmel, dann wieder auf sein Barometer. „Der Druck fällt. Wenn wir jetzt abfallen, können wir die Front umsegeln. Helena ist ein tapferes Mädchen.“ Seine Hand streichelt die glatte Seitenwand. „Aber sie ist zu klein für einen ausgewachsenen Sturm.“
„Was fü‘ne Sülsse“, Richi sieht nach Westen, „da is‘ nix.“
Max sieht auf sein Barometer. Die Stirn legt sich in scharfe Falten. Er steht auf, dreht den Rücken in den Wind und zeigt mit dem linken Arm 90 Grad raus, gerade auf den Bug. „Du hältst genau auf das Sturmzentrum zu.“
„Wunderbar!“ Lea klettert zu ihnen ins Cockpit, setzt sich auf die Längsseite, nimmt ein Messer aus einem Halter an ihrer Wade und fängt an sich den Schmutz unter den Nägeln herauszukratzen.
„Das sind Sturmböen auf die wir zu segeln. Wenn wi…“
Lea hebt das Messer auf Augenhöhe und dreht ein Loch in die Luft. „Wind ist genau was wir brauchen.“
„Jetz müss‘n me wenden“, Richi kratzt sich am Kinn, „sons verpass‘n ma die Isla de Oro. Wär’n Jammer. All die fett‘n Weiber.“
„Der Himmel ist schwarz. Das ist mehr als eine kleine Gewitterfront. Richi, du musst abfallen. Und wenn wir vor dem Wind sind setzen wir das Spisegel. Wir können es noch schaffen. Bereit Lea?“
Sie schiebt ihr Messer in die Halterung: „Allzeit bereit für den Spi.“
Richi langt wieder nach seinem Flachmann. „He! Was treibt’n ihr Badewanne’matros‘n da?“
„Wir bereiten das Spisegel vor!“
„Wir geben der feinen Helena die Sporen. Sie soll sich sputen.“
Richi spuckt über die linke Schulter: „Die Isla de Oro iss im Osten. Aso segel‘ ma imma schö‘ nach Osten.“
„Böe“, ruft Max. Helena wird von einem Windstoss flach ans Wasser gedrückt. Lea und Max setzen sich auf die Längsseite. Wasser schwappt ins Cockpit. Sie lehnen sich weit hinaus. Lea jubelt. Die Helena richtet sich wieder auf. Max beginnt sofort Wasser abzupumpen. „Los Lea, nimm den Eimer.“
„So`n Windfurz“, Richi kneift die Augen zusammen. „Bring‘ uns mit Karacho auf die Isla de Oro. Dort grins‘ eim die Sonne ins Gemüt. Schönstes Fleckchen aufm Globus mit allem was sich gehört. Gold, Weiber, Wein. Alles uns.“ Mahnend hebt er den Zeigefinger. „Aber wenn wir die Ersten nich sind, könne’ma glei‘ Fischchen zählen geh’n.“
„Böe!“ Lea und Max springen wieder auf die Längsseite und reiten einen weiteren Windstoss aus. Wellen spritzen Max ins Gesicht und ins Boot. „Ich habe mich getäuscht“, hustet er. „Da kommt kein Sturm, da kommt ein Orkan.“
Wieder krängt die Helena. Max trinkt Salzwasser. Richi hält seinen Flachmann triumphierend in die Luft. „Aufm Kurs sin ma die Nummero Uno. Gibt kenen zweiten Seefuchs wie mich. Klar zum Wenden!“
„Klar“, rufen Lea und Max.
Richi drückt das Steuer herum. Der Bug geht durch den Wind. Die Segel flattern. Die drei Menschen wechseln die Seite. Schäumend schlagen die Wellen gegen das Boot. Helena nimmt Fahrt auf. Eine Welle nach der anderen pflügend.
„Das ist verrückt“, keucht Max, während er eimerweise Wasser aus dem Schiff schöpft.
„Kannst`s den Makrelen flüstern“, Richi nickt über die Bordkante.
„Endlich geht’s voran.“ Lea grinst. „Alle Schoten dicht und unsere Helena läuft wie ein englisches Vollblut.“
Regen. Kalt schlägt er ihnen ins Gesicht, auf das Deck, in Wellen die über den Bug spritzen.
„Böe“, ruft Max. Alle drei reiten aus, trotzdem legt sich die Helena flach ins Wasser. Wasser flutet ins Cockpit. „Fieren“, hustet Max.
Richi gibt dem Grosssegel Raum und die Helena richtet sich auf. Es regnet Bindfäden.
„Abfallen“, befiehlt Richi.
„Wieso?“ ruft Lea. „Endlich machen wir Tempo.“
„Kann s‘Ruder ned halden.“
„Gut“, ruft Max, „ich reffe das Grosssegel.“
„Bloss nicht!“, Lea hält ihn am Handgelenk zurück. „Wir müssen den Wind voll ausnützen.“ Lea sieht zu Richi, der nickt und trinkt, dann ruft er: „Fall‘ ab. Segel fie‘en! Neue‘ Ku‘s liecht an. Spi hoch.“
„Spi hoch.“ Leas Augen blitzen wie der Himmel.
„Das ist Selbstmord“, ruft Max.
Lea zieht das Segel in die Höhe und im Wind bäumt sich der Spi auf. Wie eine Pistolenkugel schiesst die Helena über die Wellen. Gleitet hinab ins Wellental. Hinauf auf den Kamm und wieder hinab.
„Das gefällt mir!“, jauchzt Lea.
Richi nimmt einen Schluck aus seinem Flachmann. Max schaut zum tiefschwarzen Himmel, über das Wasser. Ein Blitz schlägt hinein.
„Böe!“
Der Wind greift sich das Spisegel. Die nasse Leine rutscht durch Max Finger. Der Wind drückt in das Segel. Das Segel zieht am Boot. Das Boot legt sich flach auf das Wasser.
„Spi kappen!“
Lea springt nach vorne, zückt ihr Messer. Die Helena richtet sich auf. Das Tuch wird vom Wind in die Höhe gerissen, flattert wie eine riesenhafte Fahne vor ihnen her.
Ein Knall. Max sieht nach vorne. Sieht das Vorsegel heftig schlagen. „Leine gerissen!“.
Eine Böe drückt das Boot herum.
„Ducken!“
Der Baum fliegt knarrend über das Deck. Trifft Richi am Kopf. Er verliert das Gleichgewicht und kippt aus dem Boot. Versucht sich im Fall an einer Leine zu halten. Greift daneben. Klatscht ins Wasser. Verschwindet in Regen und Wellen.
„Mann über Board!“
Max greift nach der Pinne, will sie herum reissen. Die nächste Böe drückt die Helena wieder auf die Seite. Das Grosssegel unter Wasser. Es wird von den Wassermassen erfasst und gesogen, bis es senkrecht unter Wasser zum Stillstand kommt.

Prustend taucht Max an die Oberfläche. Suchend sieht er sich um. Im Regen. In den Wellen. Findet die Helena einen Meter neben sich. Kann sie greifen. Versucht sich aufs gekenterte Boot zu ziehen. Rutscht immer und immer wieder ab.

Eine Hand greift nach ihm. Lea. Sie sitzt oben.
„Wo ist Richi?“
Suchend sehen sie sich um. Die grauen Wellen verschwimmen mit dem grauen Himmel. Der Regen zieht weiter.
Ein Flachmann schwimmt an ihnen vorbei.

Sie rutschen über die Helena, versuchen den Flachmann zu greifen.
„Hab ihn“, ruft Lea triumphierend.
„Da“, ruft Max. Zwei Arme halten sich an einer Leine fest. Gemeinsam können sie den hustenden Richi aufs Schiff ziehen.

Zähneklappernd sitzen die drei Menschen beisammen. Warten auf die Sonne. Lea nimmt den letzten Schluck aus dem Flachmann: „Ich weiss“, sagt sie grinsend. „Man sollte in dem Wetter nicht raus gehen. Aber Mitten in dem Nix, aus dem wir kommen, bin ich lebendig.“
Richi sieht missmutig auf den leeren Flachmann, dann steckt er ihn in seine Brusttasche. „Das wa‘s mit de‘ Isla de Oro.“
„Vielleicht“, Max mustert das Wasser: „Wir machen Fahrt. Wir wissen nur nicht wohin.“